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Alarmstart in Kabul

Bundestag, Friedenspolitik

Beim Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu Afghanistan (PUA) bewegen wir uns immer weiter von den konkreten Ereignissen auf dem Flughafen in Kabul im August 2021 hin zu den politisch Verantwortlichen

Nicht nur zwei Schwerlastpaletten, sondern auch zwei deutsche Soldaten wurden bei einem überstürzten Alarmstart einer Bundeswehr-Maschine am 26. August auf dem Flughafen in Kabul zurückgelassen. Die beiden Soldaten konnten später noch ausgeflogen werden, doch was passierte mit den beiden Paletten? Sie waren bestückt mit sensiblen Papieren der Feldjäger und was wurde unternommen, damit sie nicht in die Hände der Taliban geraten?

Mit diesen und ähnlichen konkreten Fragen beschäftigten wir uns beim PUA in den letzten Wochen.

So befragten wir den als Sicherheitsberater an der Deutschen Botschaft tätigen GSG-9-Beamten „Fisch“, der bis zum letzten Tag der Evakuierungsmission am Flughafen Kabul blieb. Besonders erstaunt zeigte er sich, wie viele so taten, als seien sie von den Entwicklungen völlig überrascht, dabei sei es doch vor Ort offensichtlich gewesen, dass der Ring der Taliban um Kabul immer enger geworden sei und dies habe man auch nach Berlin kommuniziert.

Auch ein Hauptmann der Feldjäger der Bundeswehr und ein Offizier des Kommando Spezialkräfte (KSK), der ebenfalls bis zum 26. August 2021 in Kabul war, gehörten zu den wenigen „deutschen“ Augenzeugen der Ereignisse auf dem Flughafen von Kabul und konnten zu dem Alarmstart ausführlich befragt werden.

An einem Sitzungstag fanden die sehr interessanten Befragungen der damaligen stellvertretenden afghanischen Friedensministerin Dr. Alema und dem seinerzeitigen afghanischen Außenminister statt. Für uns als Grüne sind gerade diese afghanischen Stimmen wichtig. Es ging auch um die Flucht des damaligen Präsidenten Ashraf Ghani aus Kabul und welche Ereignisse diese auslöste.

In den folgenden Sitzungen wandten wir uns wieder der heißen Phase zu. So waren der Brigadegeneral Jens Arlt, Kommandeur des Evakuierungseinsatzes Afghanistan sowie Jan Hendrik van Thiel aus dem Auswärtigen Amt (AA), der damalige stellvertretende und „geschäftsführende“ Botschafter in Kabul, geladen.

Arlt klagte, dass der Auftrag, alle Ortskräfte auszufliegen, nicht zu erfüllen gewesen sei und schilderte emotional die hohe Belastung für die Soldaten.  Der Zeuge van Thiel, der ebenso wie Arlt erst am 26. August 2021 mit dem letzten Evakuierungsflieger das Land  verlassen hatte, machte neben fehlender Fachkompetenz im AA hinsichtlich der Bewertung und dem Umgang mit Sicherheitslagen auch ein gewisses Maß an Realitätsverweigerung auf deutscher Seite dafür verantwortlich. In Stichworten: er wies immer wieder auf die Notwendigkeit rechtzeitiger Evakuierungsvorbereitungen hin und wurde von „Berlin“ als alarmistisch wahrgenommen, weil „nicht sein kann, was nicht sein darf“. Der BND rechnete erst „in Monaten“ mit einer Machtübernahme der Taliban. Dabei hatten laut van Thiel – und wie sich herausstellte zutreffend – die Taliban nicht mehr nur einen Ring um Kabul gezogen, sondern waren bereits überall in die Stadt eingesickert, sie traten nur noch nicht offen auf. Erst ab dem 14. August 2021 änderte sich die Haltung des AA, dafür wurde van Thiel bei den Besprechungen nicht mehr zugeschaltet. Auch zum deutschen operativen Chaos auf dem Flughafen von Kabul konnte er einige konkrete Geschichten beitragen.

Einen weiteren zentralen Akteur der Ereignisse, den Sonderbeauftragten der Bundesregierung für Afghanistan und Pakistan im Untersuchungszeitraum bis Juli 2021, konnten wir lange befragen. Er begleitete die Innerafghanischen Friedensverhandlungen in Doha und widersprach in Besprechungen und E-Mails immer wieder der (zutreffenden) Lageeinschätzung von Jan Hendrik van Thiel. In entscheidenden Fragen berief er sich auf Erinnerungslücken.

Einen weiteren Fokus richteten wir auf den damaligen Leiter des Krisenreaktionszentrums im AA sowie den kurzfristig eingesetzten Krisenbeauftragten. Meiner Einschätzung nach vermied dieser es, zur Arbeitsaufteilung und Entscheidungsprozessen im AA klare Aussagen zu machen. Zu konkreten operativen Fragen äußerte er sich hingegen sehr offen und detailliert und berichtete auch, was inzwischen aus den Fehlern gelernt wurde. Zudem regte er zur besseren Krisenfrüherkennung an, sich mehr mit Leuten außerhalb der eigenen Experten-Bubble, die einen anderen Blickwinkel haben, zu reden.

Sehr gereizt reagierte Thorsten Schäfer-Gümbel von der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) Ende April, als die Fragen auf die „Sonderabfindung“ für afghanische Ortskräfte kamen, die allgemein als „Bleibe-“ oder gar „Sterbeprämie“ wahrgenommen wurde. Ursprünglich habe die GIZ geplant, auch nach Anzug der westlichen Truppen aus Afghanistan dort ihre Tätigkeit fortzusetzen, da man nur von einer „Neuverteilung der Macht“, aber nicht von einer vollständigen Machtübernahme der Taliban ausging.

Weitere Zeug*innen vor allem aus dem Bundesministerium des Inneren wurden von uns befragt. Meinem Eindruck nach wurde mit allen Mitteln der Bürokratie versucht, die Ausreise von Ortskräften nach Deutschland zu verhindern. Explizite Nachfragen, ob zum Beispiel die vom Bundesinnenminister a.D. Horst Seehofer festgelegte Obergrenze dabei eine Rolle gespielt hätte, wurden „natürlich“ verneint.

Ende Juni befragten wir Jens Plötner, damals Politischer Direktor im AA und seit Dezember 2021 der außen- und sicherheitspolitische Berater von Bundeskanzler Olaf Scholz. Er antwortete sehr ausweichend, besonders zu den Widersprüchen zwischen den westlichen Partnern.

Der letzten Sitzungstage vor der Sommerpause standen ganz im Zeichen des Bundesnachrichtendienstes (BND). Zuerst befragten wir den damaligen Leiter der Abteilung Auswertung und Beschaffung für die Region. Es wurde deutlich, dass nicht die Quellenlage des BND das Problem war, sondern welche Schlussfolgerungen daraus in der Analyse gezogen wurden. Die Auswertungen des BND seien bei den Ministerien nicht auf Gegenliebe gestoßen und sie oft als „Schwarzseher“ abgetan worden. Deshalb sieht er den BND zu Unrecht an den Pranger gestellt.

Anschließend musste Tania Freiin von Uslar-Gleichen, damals Vizepräsidentin des BND, Rede und Antwort stehen, insbesondere warum der BND den Zusammenbruch der afghanischen Regierung sowie der Streitkräfte und damit den Fall Kabuls zeitlich so falsch einschätzte. Diese Fragen galten auch ihrem Vorgesetzten, Bruno Kahl, damals und heute der Präsident des BND, der auf Uslar-Gleichen in den Zeugenstand folgte.

Nach der Sommerpause geht es am 26. September weiter, beginnend mit dem Generalinspekteur der Bundeswehr und voraussichtlich endend am 19. Dezember 2024 mit der Befragung der Bundeskanzlerin a. D., Angela Merkel.

Zum Abschluss des Ausschusses wollen wir anhand der Untersuchungsergebnisse empfehlen, was aus den gewonnenen Erkenntnissen zu lernen ist. Der Ausschuss tagt in der Regel öffentlich.

Mehr Informationen und Anmeldung:

https://www.bundestag.de/ausschuesse/untersuchungsausschuesse/ua01