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Bund-Länder-Papier zum Strafrechtsjahr 2023

Bundestag, Strafrecht

Position Bündnisgrüner Rechtspolitiker*innen

In einer freiheitlich verfassten Gesellschaft ist das Strafrecht Ultima Ratio. Es kann nur da zur Anwendung kommen, wo elementare Regeln des Zusammenlebens gebrochen werden.

Eine evidenzbasierte und menschen-(rechts-)orientierte Kriminalpolitik muss stets hinterfragen, welche Straftatbestände unbedingt erforderlich sind und welche Verhaltensweisen von der Gesellschaft für strafwürdig erachtet werden.

Das Prinzip der Ultima Ratio und die Begrenzung auf das unbedingt Erforderliche bedeuten auch, dass Debatten über eine Absenkung des Strafmündigkeitsalters unverantwortlich und nicht zielführend sind. Das geltende System des Jugendstrafrechts hat sich bewährt und sollte in keinem Fall leichtfertig aufgegeben werden.

Im Strafrechtsjahr 2023 muss der Bundesgesetzgeber die Gelegenheit ergreifen und das Strafrecht unter diesem Blickwinkel modernisieren.

  • Der Schwangerschaftsabbruch muss außerhalb des Strafgesetzbuches geregelt werden. Die derzeitige Regelung im Strafgesetzbuch ist schon mit Blick auf die Beachtung des (reproduktiven) Selbstbestimmungsrechts nicht mehr tragbar. Hierfür hat sich auch der Bündnisgrüne Bundesparteitag im Oktober 2022 in Bonn ausgesprochen. Im vergangenen Sommer hat die Ampel-Koalition, wie von Bündnis 90/Die Grünen schon seit langem gefordert, den § 219a StGB gestrichen und so den freien Zugang zu sachlichen Informationen über Schwangerschaftsabbrüche eröffnet. Das war ein wichtiger erster Schritt, um die Gesundheitsversorgung von ungewollt Schwangeren zu verbessern. Wir begrüßen daher, dass eine von der Bundesregierung eingesetzte Kommission die Möglichkeit einer entsprechenden Regelung prüft.

 

  • Der faktischen Bestrafung von Armut wollen wir entgegentreten. Beim Fahren ohne Fahrschein, das nach geltender Rechtslage gem. § 265a StGB strafbar ist, wirkt soziale Ungerechtigkeit bis in den Gerichtssaal fort. Hier haben wir bereits in der Vergangenheit wiederholt eine Entkriminalisierung gefordert, zuletzt in der vorigen Wahlperiode mit einem eigenen Gesetzentwurf (BT-Drucksache 19/1690). Die Konferenz der Justizminister*innen (JuMiKo) hat diese Forderung im November 2022 unterstützt. Der Unrechtsgehalt des Fahrens ohne Fahrschein rechtfertigt Sanktionen nach dem Strafgesetzbuch nicht. Die Strafen treffen ganz überwiegend Menschen in finanzieller Not, die sich das Ticket nicht leisten können. In der Folge werden oftmals aus Geldstrafen Ersatzfreiheitsstrafen – mit besonders harten Folgen für die Betroffenen. Nicht zuletzt entlasten wir mit der Änderung die Justiz.

 

  • Das „Containern“, also das Entnehmen von noch genießbaren Lebensmitteln aus Abfallbehältern, ist derzeit als Diebstahl strafbar. Wir müssen nachhaltig mit unseren Ressourcen umgehen und unsere Rechtsordnung sollte diejenigen, die dazu einen Beitrag leisten wollen, indem sie genießbare Lebensmittel retten, nicht vor Gericht stellen. Weniger Lebensmittelverschwendung erfordert Maßnahmen in vielen Politikfeldern. Bündnis 90/Die Grünen setzt sich in der Rechtspolitik daher weiter dafür ein, dass „Containern“ nicht strafrechtlich geahndet wird.

 

  • Der beste Schutz vor sexualisierter Gewalt und vor der Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung ist Prävention. Wir sind überzeugt, dass der Fokus unserer gemeinsamen Bemühungen als Gesellschaft hierauf noch viel stärker gelegt werden sollte. Gleichzeitig ist das Strafrecht ein unverzichtbarer Baustein für den Schutz vor solchen Taten.

 

Sexualisierte Gewalt muss entschieden verfolgt und geahndet werden. Diesem Ziel folgte auch die 2021 erfolgte Anhebung der Mindeststrafandrohung in § 184b Absatz 1 und 3 StGB auf ein Jahr Freiheitsstrafe für Fälle der Verbreitung, des Erwerbs und Besitzes kinderpornographischer Inhalte. Hinter im Fachterminus sogenanntem ´kinderpornographischen Inhalt´ stehen häufig reale sexualisierte Gewalthandlungen gegen Kinder. Deshalb sind weiterhin eine konsequente Strafverfolgung und der Einsatz erheblicher Ressourcen dringend geboten.

 

Die fast zweijährige Praxiserfahrung zeigt allerdings, dass in diesem Fall gut gemeint leider nicht gleich gut gemacht ist. Die Justizministerkonferenz hat sich aufgrund der negativen Praxiserfahrung bereits mit dem Thema befasst und Handlungsbedarf formuliert. Deutliche Warnungen kamen bereits im Vorfeld auch aus der Wissenschaft und vom Bund deutscher Kriminalbeamter; diese haben sich nun bestätigt. Die staatsanwaltschaftliche Praxis hat gezeigt, dass sich die Einordnung aller Begehungsvarianten des § 184b StGB als Verbrechen nicht bewährt, sondern dazu geführt hat, dass zum Beispiel gegen Eltern oder Lehrkräfte, die einschlägige Bilder aus einem Schüler-Chat der Schulleitung zu Beweiszwecken zuleiten bzw. vorlegen, zwingend ermittelt werden muss. Dadurch wird das strafrechtliche Vorgehen gegen die Verbreitung von sexualisierter Gewalt erschwert, dringend benötigte Ressourcen können so nicht zielgerichtet eingesetzt werden. Zeug*innen, die vielfach als Anzeigenerstatter*innen das Verfahren erst ins Rollen bringen, dürfen nicht Gefahr laufen sich selbst strafbar zu machen. Das Strafrechtsreformjahr sollte daher auch dafür genutzt werden, die Tatbestände des § 184b Absatz 1 Nummer 1 bis 4 und Absatz 3 StGB zu einem Vergehen herabzustufen, um auf die mit der derzeitigen Gesetzeslage teilweise verbundenen Härten angemessen reagieren zu können und so die verfassungsrechtlich gebotene tat- und schuldangemessene Ahndung aller Einzelfälle unter der Berücksichtigung der jeweiligen Besonderheiten gewährleisten zu können.

 

  • Ebenfalls bekräftigen wir den breit getragenen Beschluss der JuMiKo, endlich der Empfehlung der Reformkommission des Sexualstrafrechts aus dem Jahr 2017 zu folgen und die Ausübung verbotener Prostitution durch Streichung des § 184f StGB nicht länger unter Strafe zu stellen. Ein Festhalten an der Strafbarkeit der Ausübung der verbotenen Prostitution würde die psychosozialen und finanziellen Probleme insbesondere der sogenannten „Elendsprostituierten“ weiter vertiefen. Vielmehr müssen dahinter liegende Strukturen stärker in den Blick genommen werden.

 

  • Die Vereinbarung im Koalitionsvertrag der Ampel, die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu ermöglichen, muss nun umgesetzt werden. Der Erwerb und Besitz von Cannabis sollten nicht strafbar sein. Dass der Genuss von Alkohol straffrei und gesellschaftlich anerkannt ist, der Konsum von Cannabis jedoch kriminalisiert wird, ist eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung. Um Gesundheitsrisiken zu minimieren, Jugendschutz zu gewährleisten und den illegalen Handel zu verhindern, muss es regulierte Vertriebswege vom Anbau bis zum Verkauf geben. Einen entsprechenden Gesetzentwurf haben wir mit dem Cannabiskontrollgesetz in der 19. Wahlperiode bereits vorgelegt.

In einer freiheitlich-rechtstaatlich verfassten Demokratie hat das Strafrecht eine wichtige schützende Funktion. Angriffe auf das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Würde der Menschen, jede Form der Selbstbestimmung, das Eigentum usw. können schwere Folgen für die Verletzten haben. Kriegsverbrechen auf der ganzen Welt lassen uns sprachlos zurück. Die Organisierte Kriminalität nimmt auf die durch sie in ihren Rechten Verletzten keinerlei Rücksicht und erwirtschaftet Milliarden. Die zunehmende Hasskriminalität wird zu einer Gefahr für den offenen und demokratischen Diskurs. Im Bereich der Umweltkriminalität entstehen teils irreversible Folgen für die Natur, die die Menschen noch in Generationen belasten werden.

Auch unter diesem Blickwinkel wollen wir das Strafrecht modernisieren.

  • Die Einführung des Völkerstrafgesetzbuches (VStGB) und damit des Weltrechtsprinzips bei Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit war ein wichtiger Schritt für Deutschland. 21 Jahre nach seiner Einführung müssen jedoch vorhandene Lücken des materiellen Völkerstrafrechts geschlossen und die Rechte der Betroffenen in Völkerstrafverfahren gestärkt werden. Dazu gehören die vollständige Umsetzung der UN-Konvention zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen, die verbesserte Verfolgbarkeit von sexualisierter, reproduktiver und geschlechtsbezogener Gewalt sowie die Aufnahme weiterer Tatbestände in das VStGB.

 

  • Überlegungen, auf internationaler und auch europäischer Ebene die Schaffung eines Straftatbestands zum sog. Ökozid zu prüfen, unterstützen wir ausdrücklich. Finanzierung, Zulassung oder Verursachung schwerer Umweltschäden sollten noch effektiver strafrechtlich verfolgt werden. Die Stärkung von Kapazitäten und Expertise in der Justiz sollte hier in den Blick genommen werden. Mit dem Richtlinienvorschlag über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt geht die Europäische Kommission einen wichtigen Schritt in der Bekämpfung der Umweltkriminalität. Wir Rechtspolitiker*innen von Bündnis 90/Die Grünen begrüßen ein konsequenteres Vorgehen gegen Umweltrechtsverstöße. Gerade im Bereich der Organisierten Kriminalität sind Umweltdelikte mittlerweile eine der wichtigsten Einnahmequellen nach der Drogenkriminalität. Dies müssen wir dringend ändern, Umweltkriminalität darf sich nicht mehr lohnen. Die Bundesregierung muss ihr europäisches Gewicht einsetzen und für eine konsequente Ausgestaltung der Richtlinie sorgen. Nach Inkrafttreten der Richtlinie ist die Umsetzung in das deutsche Recht zeitnah zu besorgen. In diesem Zusammenhang sind aktuell auch die Richtlinienvorschläge zur Luftqualität und zu kommunalem Abwasser in den Blick zu nehmen.

 

  • Wir fordern die Überführung des Tierschutzstrafrechts in das StGB, weil diese Delikte im Lichte des Staatsschutzziels des Artikels 20a GG zum Kernbestand des strafbaren und strafwürdigen Unrechts in unserer Rechtsordnung gehören. Die Aufnahme in das zentrale Regelwerk des Strafrechts ist damit folgerichtig, auch um die Sichtbarkeit zu erhöhen und Bewusstsein dafür zu schaffen. Es muss darüber hinaus eine Versuchs- und eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit eingeführt werden. In bestimmten Konstellationen sollte die Strafe erhöht sein, etwa bei bandenmäßiger Begehung oder wenn die Tat im Rahmen einer gewerblichen Tätigkeit oder als Amtsträger*in begangen wird.

 

  • Das Strafrecht muss mit aktuellen Herausforderungen Schritt halten. Cyberangriffe nehmen quantitativ und qualitativ stark zu und verursachen häufig erhebliche Schäden bei Einzelnen sowie bei Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen. Wir brauchen, darauf hat auch die JuMiKo hingewiesen, eine Überarbeitung des Cyberstrafrechts. Das „Jahr des Strafrechts“ bietet die Chance, dieses wichtige Thema entschlossen anzugehen.

 

  • Das Strafrecht muss imstande sein, diejenigen Akteure möglichst lückenlos zur Verantwortung zu ziehen, die tatsächlich für schwerwiegende Rechtsgutsverletzungen verantwortlich sind. Das können auch juristische Personen bzw. Unternehmen sein, insbesondere diejenigen Unternehmen mit besonders ausgeprägter Machtposition. Daher sollten auch die Ansätze aus der 19. Wahlperiode für ein Verbandssanktionengesetz wieder aufgegriffen werden.

Unser Konzept für ein modernisiertes Strafrecht hätte nicht zuletzt auch den Effekt, dass die Strafverfolgungsbehörden ihre Kapazitäten auf die wirklich wichtigen Bereiche schwerwiegender, empfindlicher Rechtsgutsverletzungen fokussieren könnten. Dies sollte unser aller Anliegen sein.

 

Unterzeichner*innen:

Canan Bayram, MdB, Obfrau im Rechtsausschuss

Lukas Benner, MdB

Doreen Denstedt,

Anna Gallina,

Renate Künast, MdB

Benjamin Limbach,

Helge Limburg, MdB, rechtspolitischer Sprecher

Katja Meier,

Till Steffen, MdB

Awet Tesfaiesus, MdB