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„Christian hat nie gekifft. Seine Leidenschaft war Milch“

Presseecho

Mein Interview mit T-Online zum Tod von Hans-Christian Ströbele am 1. September 2022

Ein Stadtteil steht unter Schock, denn der „König von Kreuzberg“ ist tot. Nie wieder wird Hans-Christian Ströbele um die nächste Ecke geradelt kommen, mit wehendem, weißem Haar und dem unverkennbaren roten Schal.

„Ich habe es noch nicht ganz realisiert“, sagt eine hörbar mitgenommene Canan Bayram. Die Grüne ist Bundestagabgeordnete aus dem Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg und damit Ströbeles direkte Nachfolgerin. Von 2002 bis 2013 hatte er diesen Wahlkreis viermal direkt gewonnen, immer als bundesweit einziger Grüner.

Jetzt sitzt Bayram in dem Wahlkreisbüro in der Dresdener Straße, das einmal Ströbeles war, und trauert. Seit der Todesnachricht am Mittwochmorgen kämen immer mehr Menschen ins Büro nahe des Kottbusser Tors, sagt Bayram. „Sie wollen wissen, ob es wirklich stimmt. Oder einfach nur trauern.“

Trauer um Hans-Christian Ströbele: „Der war für uns da“

Besonders berührt habe sie ein türkischstämmiger Mann. „Er sagte: ‚Das war unser Abgeordneter, der immer so für uns gekämpft hat. Der war für uns da'“, erzählt Bayram. Für den Abend ist eine Gedenkveranstaltung im Wahlkreisbüro geplant, auch Grünen-Chefin Ricarda Lang hat sich angekündigt.

Ströbele habe unzählige Biografien im Stadtteil mitgeprägt, sagt seine Nachfolgerin. Zum Beispiel, als Geflüchtete 2014 eine Schule besetzten, aus Protest gegen drohende Abschiebungen. Ströbele trat als Vermittler auf und kletterte mit damals 75 Jahren zu den Besetzern aufs Dach. „Einige waren so verzweifelt, dass sie sich vom Dach stürzen wollten“, sagt Bayram. Ströbele habe ihnen Kraft und Hoffnung gegeben. „Vielen Besetzern von damals begegnet man heute im Kiez. Sie sind angekommen.“

„Ich habe ihm versprochen, dass ich seine Friedenspolitik fortführe“

Auch Bayrams eigene Biografie hat Ströbele maßgeblich geprägt. Als bekannt wurde, dass er nicht zur Bundestagswahl 2017 antreten würde, sei sie von Parteikollegen für seine Nachfolge ins Spiel gebracht worden, sagt Bayram. Am Rande einer Parteiveranstaltung habe sie sich dann mit Ströbele darüber unterhalten. „Das war wie mein drittes Staatsexamen.“ Stundenlang habe Ströbele sie zu allen möglichen Themen abgefragt, nach Meinungen und Fachwissen, Innen- und Außenpolitik. „Irgendwann hatte ich bestanden.“

Auch nachdem Bayram seine Nachfolge angetreten hatte, habe sie sich regelmäßig mit ihm getroffen und über die aktuelle Politik diskutiert, vor allem über Außenpolitik. „Ich habe ihm versprochen, dass ich seine Friedenspolitik fortführe.“ Im Juli stimmte Bayram zuletzt gegen Einsätze der Bundeswehr im Kosovo und in Bosnien und Herzegowina, jeweils als einzige Grüne.

Zuletzt habe sie vor drei Wochen mit Ströbele telefoniert. „Er wird sehr fehlen“, sagt Bayram. Ihr selbst, aber auch den Menschen in Kreuzberg.

Wie viel Kreuzberg steckte in Ströbele?

Aber wieviel Kreuzberg steckte eigentlich in „Ströbi“? Und wieso hat er selbst nie in Kreuzberg gewohnt?

Anruf bei Heidi Kosche, 73. Sie ist Kreuzbergerin. Sie hat mehrere Bundestagswahlkämpfe für Ströbele organisiert. Sie kennt ihn noch aus der Zeit, als sie sich beide für die Alternative Liste (AL) engagierten, die Vorgängerin der Grünen. Wenn die Rede von Ströbele ist, denken ja viele erst an Kreuzberg und dann an den Song, den Stefan Raab aus einem gesampelten Zitat des grünen Vorzeige-Politikers gebastelt hat: „Gebt das Hanf frei!“ Ströbele hat das tatsächlich gefordert, 2002 bei der Hanf-Parade in Berlin.

Seine große Leidenschaft: Milch

Im Rest der Republik gilt Kreuzberg ja immer noch als Paradies für Kiffer, obwohl der Kiez längst gentrifiziert ist und die Dealer im Görlitzer Park um ihre Pfründe fürchten müssen, weil die Bundesregierung Marihuana legalisieren und die Grünen in Berlin sogar noch härtere Drogen wie Kokain freigeben wollen. Und weil „Ströbi“ diesen Wahlkreis viermal in Folge direkt gewonnen hat, geht er als „König von Kreuzberg“ in die Geschichte ein.

Dabei, sagt Heidi Kosche, habe der Christian nicht mal gekifft. „Der letzte Konservative“ so hat ihn die „Zeit“ in einem Nachruf genannt – wohl nicht nur deshalb, weil er schon seit einer Ewigkeit mit derselben Frau verheiratet ist und Interviews grundsätzlich bei „Kuchen-Kaiser“ gab, einem Café, das um die Ecke seines ehemaligen Wahlkreisbüros in Kreuzberg liegt.
Heidi Kosche findet, dass das Bild nicht stimmt. Aber eines muss auch sie einräumen: Sie habe nie gesehen, dass „Ströbi“ jemals ein Glas Wein getrunken habe. Sie sagt, Milch sei seine große Leidenschaft gewesen. Er habe täglich einen Liter getrunken. Und wenn man nicht gewusst habe, was man ihm zum Geburtstag schenken sollte, mit einem Abo verschiedener Milchsorten hätte man gar nichts falsch machen können. Oder mit Schokolade.

Nicht mehr Ströbeles Kreuzberg

Sympathiepunkte hat ihn das offenbar nicht gekostet. Viele haben ihn vielleicht gerade dafür geliebt. Als fröhlich, geradlinig und lebensbejahend beschreibt ihn Kosche. Eigenschaften, von denen sie behauptet, sie seien immer noch typisch für den Bezirk, der inzwischen so gentrifiziert ist, dass sich auch Normalverdiener kaum noch die Miete leisten können. Dass das Kreuzberg von heute nicht mehr Ströbeles Kreuzberg ist, muss auch Kosche einräumen.

Sie sagt, wenn er mit Rad durch die Straßen gekurvt sei, hätten ihm Menschen vom Straßenrand zugewunken, auch solche, die für grüne Politik sonst nichts übrig hatten. „Hey Christian, wie geht es Dir?“

Ein König auf zwei Rädern. Die „B.Z.“ hat 2009 enthüllt, dass Ströbele sein Rad nach einer Wahlkampfveranstaltung ein paar Blöcke weiter im Kofferraum seines Autos verstaut hatte und den Rest der Strecke im komfortableren Volkswagen nach Hause fuhr. Heidi Kosche kennt die Geschichte. Sie sagt, nur Mitglieder der CDU hätten sich darüber aufgeregt. „Ströbi“ sei schon Fahrrad gefahren, als es die Grünen noch gar nicht gegeben habe. Es sei so ein altmodisches Modell in Schwarz gewesen, nur die Stange war lila. Kosche kichert. „Die hatte wohl jemand angesprüht.“

Warum „Ströbi“ nie nach Kreuzberg gezogen ist

In Kreuzberg hatte man ihn schon länger nicht mehr gesehen. Seine Krankheit raubte ihm die Kraft zum Radeln – und am Ende auch die zum Laufen. Kosche sagt, zuletzt habe sie „Ströbi“ Anfang Juni gesehen, an seinem 83. Geburtstag. Es habe ihr wehgetan, mitanzusehen, wie er sich zu Fuß mit seinem Rollator die 300 Meter lange Strecke bis zu seinem Lieblingsitaliener gequält habe.

Aber warum ist er nie nach Kreuzberg gezogen? Kosche sagt, die Frage habe sie ihm auch gestellt. Die Antwort hat sie noch im Ohr: „Wegen des Lichts“. Ströbeles Frau Juliana, eine Ethnologin, habe sich nur in hellen Räumen wohlgefühlt. Und in ihrer Wohnung in Moabit am Ufer der Spree habe an Licht kein Mangel geherrscht. In Kreuzberg eine ähnlich helle Wohnung zu finden, sei gar nicht leicht gewesen. Heidi Kosche vermutet aber noch einen ganz anderen Grund. Sie sagt, beide seien beruflich total eingespannt gewesen. „Für einen Umzug hätten die gar keine Zeit gehabt.“
Link zum Interview: