Das von den Anwohner*innen gebaute Protesthaus am Kottbusser Tor blickt auf eine bewegte Geschichte
Ein „Gecekondu“ ist ein „über Nacht hingestelltes Haus“. Nach einem in der Türkei weit verbreiteten Gewohnheitsrecht darf ein solches auf öffentlichem Grund und Boden errichtetes Gebäude nicht mehr abgerissen werden. Plötzlich steht es da! Um ein Haus tatsächlich in einer Nacht errichten zu können, packen viele Leute gemeinsam an. Ganze Viertel in Istanbul, Izmir und Ankara sind so entstanden.
So auch Ende Mai 2012, als die Nachbar*innen vor allem aus den umliegenden Hochhäusern des sogenannten Sozialen Wohnungsbaus ein kleines Straßenfest zum Bau ihres Gecekondu nutzten. „Am Anfang war es nur eine Sitzecke aus Europaletten, ohne Dach und mit unsicherer Zukunft. Es ist unser Vorgarten geworden, unser Wohnzimmer, Ausgangspunkt unzähliger Lärmdemos und der Ort, an dem wir uns bis heute treffen, unsere Arbeit planen und unsere Siege feiern, vom Sozialmietenstopp bis zur Rekommunalisierung“, schreiben sie in ihrer Einladung zur aktuellen Feier. Man nannte und nennt sich „Kotti & Co“, besonders die Anschlussfähigkeit des „Co“ war und ist wichtig, und wurde zum Vorbild für viele weitere Mieter*innen-Initiativen.
Ausgangspunkt der damaligen Mieter*innen-Proteste waren die ständig steigenden Mieten im sogenannten Sozialen Wohnungsbau. Besonders faszinierend ist an diesem Ort das Miteinander von Migrant*innen, studentischen Wohngemeinschaften und der queeren Kultur in Gestalt der gegenüber dem Gecekondu liegenden Kneipe „Südblock“. Das Problem mit den Mieten konnte im Laufe der langjährigen Kämpfe zumindest gestoppt werden, grundsätzlich gelöst ist es immer noch nicht.
Die bereits vor zehn Jahren geforderte (Re-)Kommunalisierung der Hochhäuser rund um das Kottbusser Tor war damals noch eine mehr oder weniger versponnene Idee. Es gehört zu den rückblickend betrachtet unglaublichen Erfolgen von „Kotti & Co“, dass heute rund 90 Prozent der Häuser rund um den belebten Platz wieder im Besitz der kommunalen Wohnungsbaugesellschaften Gewobag und HOWOGE sind. Sicher kein konfliktfreies Leben – man denke nur an die aktuelle Auseinandersetzung um die Kotti-Wache – aber keine existenzielle Angst mehr vor der Vertreibung in die Außenbezirke der Stadt.
Hier am Kottbusser Tor und im „Gecekondu“ entstanden die ersten Ideen zum „Berliner Mietenvolksentscheid“ genauso wie zur Kampagne „DWenteignen“. Viele weitere Faktoren und Menschen kamen jeweils dazu, nichts war bruchlos, aber die grundsätzliche politische Offenheit des „Co“ öffnete viele Räume und Herzen. Und nach zehn Jahren stehen die 59,1 Prozent Zustimmung für die Enteignung der Deutschen Wohnen und anderen börsennotierten Immobilienkonzernen, berlinweit. Ist eben alles andere als „Ghetto“ am Kottbusser Tor. Hier wird experimentiert mit Mieter*innenräten und wird als Modellprojekt im Nordblock eine Art Drittelparität zwischen Mieter*innen, kommunaler Wohnungsbaugesellschaft und Senat versucht. Hier ist mit dem „Aquarium“ ein Veranstaltungsraum entstanden, in dem auch ich als direkt gewählte Bundestagsabgeordnete mitten in meinem Wahlkreis Veranstaltungen zu Gesetzesänderungen im Bundestag durchführen kann. Wie wird über diese Keimzellen einer anderen Organisation von Gesellschaft und des Miteinanders in zehn Jahren gesprochen werden?
So gesehen liegt noch eine große Zukunft vor dem „Gecekondu“ und seinen Menschen. Aber jetzt wird erstmal gefeiert!