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Endlich Rechtsgeschichte

Bundestag, Bürger*innenrechte, Strafrecht

Vortrag zum § 219a StGB an der Universität Potsdam am 8. März 2022

 

„Wie bei juristischen Vorlesungen üblich, möchte ich gerne mit einem kleinen Fall einsteigen:

Ärztin A verlinkt auf Ihrer Website die Seite der Ärztekammer, auf der Informationen über den Ablauf von Schwangerschaftsabbrüchen enthalten sind.

Ärztin B kopiert die Informationen der Ärztekammer auf ihre Homepage.

Ärztin C verfährt wie B und ergänzt die Informationen um weitere Hinweise auf mögliche Risiken durch einen Schwangerschaftsabbruch.

Wie haben sich A, B und C strafbar gemacht?

Nach derzeitiger Rechtslage hat nur A sich nicht strafbar gemacht. B und C, die dieselben Informationen zur Verfügung stellen, in einem Fall sogar mit einer zusätzlichen Aufklärung über mögliche Risiken, haben sich wegen Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft nach § 219 a Abs. 1 StGB strafbar gemacht. Sie erwartet eine Geldstrafe oder Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren.

Genau das ist Kristina Hänel passiert.

Kristina Hänel ist einmal nach alter und einmal nach neuer Rechtslage zu einer Geldstrafe verurteilt worden, weil auf ihrer Praxis-Homepage stand: „Zusätzlich zu den normalen hausärztlichen Tätigkeiten biete ich: […] Schwangerschaftsabbruch.“ Verlinkt war eine pdf-Datei, in der allgemeine Informationen zum Schwangerschaftsabbruch, der Durchführung und den Methoden zu finden waren.

Wie kam es dazu?

Wie so viele problematische Überbleibsel aus vergangenen Zeiten in unseren bundesdeutschen Gesetzen geht auch diese zurück auf den Nationalsozialismus.

1933 wurde das sog. Werbungsverbot unter Hitler erlassen. Hintergrund war, dass Kinder gebären in der nationalsozialistischen Logik einen Dienst an der Volksgemeinschaft darstellte – das Herrenvolk sollte sich vermehren. Wer dem Führer dies verweigerte, begang Verrat am Volk. Deswegen wurde die Abtreibung unter Todesstrafe gestellt. Und um den Zugang noch weiter zu erschweren, wurden die Ärzte, die diesen Eingriff durchführten, gleich mit kriminalisiert. Das war auch deswegen besonders praktisch, weil viele Ärzt*innen jüdisch waren.

In der Bundesrepublik ist dieser Paragraph aber auch danach bis zum Fall Hänel und der daraus  resultierenden Gesetzesänderung im Jahr 2019 nie angetastet worden.

Das könnte daran gelegen haben, dass der § 219a StGB zwischen 1945 und 2010 schlicht keine praktische Relevanz hatte. Es war lange Zeit keine einzige Verurteilung nach diesem Paragraphen in den juristischen Urteilssammlungen und Datenbanken zu finden. Weder Ärzten noch Strafverfolgungsbehörden war der Paragraph bekannt.

Das änderte sich plötzlich im Jahr 2010. Völlig unerwartet wurden Ärzt*innen, die Schwangerschaftsabbrüche öffentlich als Teil ihres Leistungsspektrums angaben, systematisch angezeigt, die Strafverfolgungsbehörden von Anzeigen überrollt.

Praktisch jede von diesen Anzeigen und späteren Verurteilungen nach § 219a StGB in Deutschland ist auf zwei Männer zurückzuführen. Die selbsternannten „Lebensschützer“ wurden auf den Paragraphen aufmerksam und ihnen wurde klar, dass sie den Zugang zur Schwangerschaftsabbrüchen für die Betroffenen erschweren, wenn diese nicht selbstständig in Erfahrung bringen können, in welchen Praxen sie den Abbruch durchführen lassen können.

Einer von diesen Männern hat über dieses Vorgehen sogar Interviews gegeben und stolz erzählt, dass er immer, wenn er Zeit hat, meistens am Wochenende, über Google nach Möglichkeiten für Schwangerschaftsabbrüche sucht. Er überlegt sich, wo wohl schwangere Frauen in Konfliktsituationen sich im Internet informieren würden und dort, wo er fündig wird, erstattete er online Strafanzeige gegen die entsprechende Arztpraxen:

„Ich mach das Ganze jetzt seit gut drei Jahren. Ich habe, so würde ich mal schätzen, 60, 70 Anzeigen erstattet. Das ist halt so mein Hobby.

Eine der Anzeigen dieses Mannes traf Kristina Hänel.

Während die meisten Ärzt*innen die entsprechende Information von ihren Websites löschten, um eine Verurteilung abzuwenden, blieb Kristina Hänel hart. Sie sagt:

§ 219a StGB behindert das Anrecht von Frauen auf sachliche Informationen. 

Informationsrecht ist ein Menschenrecht.“

Damit eröffnete sie eine der größten rechtspolitische Debatte der letzten Jahre, die letztendlich dazu führte, dass der § 219a vor fast genau drei Jahren geändert worden ist.

Aber gucken wir uns erstmal Wortlaut und Systematik dieses Paragraphen an.

  • 219a steht im StGB im 16. Abschnitt unter dem Titel „Straftaten gegen das Leben“.

Nach Abs. 1 macht sich wegen Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft strafbar, „Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten eines Inhalts seines Vermögensvorteils wegen (…) eigene oder fremde Dienste zur Vornahme oder Förderung eines Schwangerschaftsabbruchs (…) anbietet, ankündigt, anpreist oder Erklärungen solchen Inhalts bekanntgibt.“

Da stecken viele spannende Rechtsfragen drin.

Fangen wir mit dem Wortlaut an:

Die erste Frage ergibt sich schon aus der Überschrift. Unter „Werbung“ würde man in der Umgangssprache eigentlich nicht eine nüchterne Information verstehen. Dieses Merkmal wird aber großzügig ausgelegt. Laut dem LG Gießen, was Kristina Hänel zu einer Geldstrafe verurteilte, sei damit auch schon das Anbieten eigener Dienste zur Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs eine Werbung.

Und daraus ergibt sich auch schon das nächste Problem, nämlich die Formulierung: „seines Vermögensvorteils wegen“.

Es liegt in der Natur der Sache, das Ärzt*innen, die eine medizinische Behandlung vornehmen, dafür auch ein Entgelt nehmen. Dadurch, dass jeder auch rechtmäßige, also nicht nur der rechtswidrige Vermögensvorteil davon umfasst ist, wird das öffentliche Anbieten des Schwangerschaftsabbruchs in Arztpraxen und Krankenhäusern somit automatisch kriminalisiert.

Im Umkehrschluss würde das doch bedeuten, dass diejenigen, die keinen Vermögensvorteil daraus ziehen können, sich nicht strafbar machen?

So ist es.

Jeder Mensch, der nicht Arzt ist und Schwangerschaftsabbrüche anbietet, darf die entsprechenden Informationen straflos verbreiten. Das führt zu dem Paradoxon, dass z.B. ich als medizinisch ahnungslose Rechtsanwältin auf meiner Website Informationen über den Schwangerschaftsabbruch zur Verfügung stellen dürfte, hingegen die Personen, die davon tatsächlich Ahnung haben, nicht.

Nach ihrer Verurteilung rief daher Kristina Hänel auf twitter jedermann dazu auf, Informationen zu verbreiten.

Fragen wirft auch die Systematik des Gesetzes auf. Die erste ergibt sich schon aus dem Standort der Norm im StGB als „Straftat gegen das Leben“. Durch die Information, dass Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden, ist natürlich noch kein Leben in Gefahr. Trotzdem steht dies im selben Abschnitt wie Mord und Totschlag.

Wenn man das ungeborene Leben als eigenes Schutzgut nach Art. 2 Abs. 2 GG iVm Art. 1 Abs. 1 GG ansieht, ist dieses zwar durch einen Schwangerschaftabbruch selbst verletzt, nicht aber durch die Information darüber. Das Schutzgut des § 219a ist laut Formulierung der amtlichen Begründung die Verhinderung der Darstellung „als etwas Normales“. Es geht also nur um die Verhinderung der Normalisierung und Kommerzialisierung des Schwangerschaftsabbruchs, den sogenannten „moralischen Klimaschutz“ – der Lebensschutz ist nur mittelbar tangiert.

Spannend ist außerdem, dass § 219a Abs. 1 StGB eine Vorfeldkriminalisierung enthält, also ein Verhalten „mitbestraft“, was vor der eigentlichen Tat, dem Schwangerschaftsabbruch liegt. Und das macht deswegen überhaupt keinen Sinn, weil sie dabei Unterschied macht zwischen rechtmäßigen und rechtswidrigen Abtreibungen.

Das heißt: Selbst wenn der Schwangerschaftsabbruch nach § 218a StGBt straflos ist, ist die Aufklärung über die entsprechende Möglichkeit in einer Arztpraxis strafbar.

Was für eine rechtliche Konstruktion ist das? Kriminalisierung des Vorfelds einer rechtmäßigen Haupttat? In keinem anderen Bereich des Strafrechts gibt es eine solche Konstellation.

Das musste auch die Große Koalition sich unter dem Druck der Öffentlichkeit eingestehen, als der Fall Kristina Hänel durch die Presse ging. Statt die komplette Systematik aufzulösen, einigten sich SPD und CDU im Jahr 2019 auf einen Kompromiss: In § 219a wurde ein neuer Absatz 4 eingefügt, der eine Ausnahme von der Strafbarkeit formuliert, wenn Ärzte nur

„1. auf die Tatsache hinweisen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche unter den Voraussetzungen des § 218a Absatz 1 bis 3 vornehmen, oder

  1. auf Informationen einer insoweit zuständigen Bundes- oder Landesbehörde, einer Beratungsstelle nach dem Schwangerschaftskonfliktgesetz oder einer Ärztekammer über einen Schwangerschaftsabbruch hinweisen.“

Diese unausgegorene Lösung führt zu den interessanten Fallkonstellationen, die ich am Anfang beschrieben habe: Wer die Informationen selbst zur Verfügung stellt und nicht nur zur Seite der Ärztekammer verlinkt, macht sich strafbar. Auch, wer neben der Angabe, dass Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden, eigene Informationen hinzufügt, macht sich weiterhin strafbar. So zwei Ärztinnen passiert, die auf ihre Praxis-Website geschrieben haben, dass der Abbruch „in geschützter Atmosphäre“ durchgeführt wird.

Dies wirft neben den strafrechtlichen auch verfassungsrechtliche Fragen auf: Mit dem 219a selbst hat das Bundesverfassungsgericht sich zwar noch nicht beschäftigt, in einer anderen Sache hat es aber folgendes festgestellt:

„Wenn die Rechtsordnung Wege zur Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen durch Ärzte eröffnet, muss es dem Arzt auch ohne negative Folgen für ihn möglich sein, darauf hinzuweisen, dass Patientinnen seine Dienste in Anspruch nehmen können.“
(BVerfG, Beschluss v. 24.5.2006, 1 BvR 1060/02, Rn. 35.)

Es stellt sich also die Frage, ob der nur mittelbare Schutz des ungeborenen Lebens im 219a die Einschränkung zentraler Grundrechtspositionen der Ärztinnen und Ärzte sowie der Schwangeren rechtfertigt.

Ein Gutachten der Gesellschaft für Freiheitsrechte kommt zu dem Ergebnis, dass § 219a nicht nur gegen

  • die Berufsfreiheit von praktizierenden Ärzt*innen und
  • die Informationsfreiheit von Schwangeren

verstößt, sondern auch gegen:

  • das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung,
  • die Religions- und Weltanschauungsfreiheit,
  • das allgemeine Persönlichkeitsrecht
  • das Recht auf körperliche Unversehrtheit und
  • die Gleichheitsrechte aus Art. 3 GG.

Gerechtfertigt wird das mit dem Lebensschutz des ungeborenen Lebens.

Und dazu soll mittelbar auch § 219a dienen: Denn in der Vorstellung der konservativen und frauenfeindlichen Befürworter dieses Paragraphen schützt nur dieser vor einem explosiven Anstieg der Abtreibungen.

Wenn man sich aber die Realität ansieht, geht aus Statistiken von Ländern mit einem liberaleren Abtreibungsrecht hervor, dass es dort nicht zu mehr Abbrüchen kommt als in Deutschland. Auch wissen wir inzwischen in die andere Richtung, dass eine Verschärfung des Abtreibungsrechts nicht zu weniger Abbrüchen führt.

Kristina Hänel hat jedenfalls gegen ihre Verurteilung Verfassungsbeschwerde erhoben, bei der das Urteil noch aussteht.

Ich fasse also zusammen:

  • der 219a ist ein Nazi-Paragraph
  • seine Reform im Jahr 2019 war unzureichend
  • er dient nicht dem Schutz des ungeborenen Lebens
  • er stellt ein nicht strafwürdiges Verhalten unter Strafe, indem er eine medizinische Auskunft kriminalisiert
  • er erleichtert sogenannten Lebensschützern die Jagd auf Ärzte
  • er erschwert den Zugang zu einer straflosen medizinischen Behandlung
  • er ist sehr wahrscheinlich unter mehreren Aspekten verfassungswidrig

Warum gibt es ihn dann also noch?

Die gute Nachricht zuerst: Es gibt ihn nicht mehr lange. In der neuen Ampel-Regierung ist die ersatzlose Streichung des § 219a als erstes Vorhaben aus dem Bundesministerium für Justiz vorgestellt worden, in wenigen Wochen wird er Geschichte sein.

Wie er so lange im StGB überleben konnte, lässt sich damit erklären, dass er zunächst schlicht keine praktische Relevanz hatte und im Jahr 2019, als der § 219a wegen Kristina Hänel auf dem Prüfstand war, die konservativen Regierungsparteien kein politisches Interesse an seiner Abschaffung hatten. Dagegen konnte sich die mitregierende SPD – die ihn eigentlich vollständig abschaffen wollte – nicht durchsetzen.

Dass dass politische Interesse an der Kontrolle des gebärenden Körpers bei konservativen Parteien noch immer hoch ist, sieht man beispielhaft daran, dass unser ehemaliger Bundesgesundheitsminister Jens Spahn von der CDU auf die Wünsche nach einer Reform des Abtreibungsrechts damit reagierte, für fünf Millionen Euro eine Studie über die Auswirkungen des Schwangerschaftsabbruchs auf die psychische Gesundheit von Frauen zu finanzieren.

Dabei gibt es schon zahlreiche Studien zu dem Thema, die alle zu dem Ergebnis kommen, dass es keine Hinweise auf negative emotionale Folgen nach dem Schwangerschaftsabbruch gibt.

Warum also nicht das gesamte System der §§ 218 ff. StGB auf den Prüfstand stellen?

Eine mögliche Lösung ist die sog. „Fristenlösung“. Diese legt eine Frist fest, innerhalb derer der eigenverantwortliche Schwangerschaftsabbruch entkriminalisiert wird.

Eine solche Lösung gab es in der DDR. Im Jahr 1972 wurde dort eingeführt, dass der Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten drei Monate erlaubt ist.

In der BRD wurde dies im  Rahmen der Frauenbewegung im Jahr 1975 unter Willy Brandt und nach der Wiedervereinigung auch im Jahr 1993 nochmal versucht. Beide Versuche scheiterten nicht  am politischen Willen, sondern am Bundesverfassungsgericht.

Die Begründung dafür lautete, dass Staat sich schützend zwischen die Frau und das ungeborene Leben stellen müsse. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen:

Grundsätzlich macht es ja Sinn, dass der Staat sich schützend zwischen zwei Personen stellt und deren Rechtsgüter schützt. Aber es gibt einen Denkfehler: Eine Schwangere und der Embryo sind keine zwei getrennten Rechtsgutsträger. Solange der Embryo nicht selbstständig lebensfähig ist, gibt es kein Dreiecksverhältnis zwischen Schwangerer, Embryo und Staat, sondern nur das Verhältnis zwischen Schwangerer und Staat.

Im Ergebnis verlangt der Staat, dass die ungewollt Schwangere ihren Körper dem Embryo zur Verfügung stellt. Das hat das Bundesverfassungsgericht auch so ausbuchstabiert:

„Der Staat muß grundsätzlich von einer Pflicht zur Austragung der Schwangerschaft ausgehen, ihren Abbruch also grundsätzlich als Unrecht ansehen.“

(BVerfG, Urteil vom 25. Februar 1975 – 1 BvF 1/74 –, BVerfGE 39, 1-95.)

Das bedeutet im Ergebnis, dass der Staat der Schwangeren die Pflicht auferlegt, die Schwangerschaft auszutragen und diese Pflicht mit dem Mittel des Strafrechts durchsetzt.

Und das tut er wie folgt:

Im § 218 wird der Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich unter Strafe gestellt. In § 218a werden Ausnahmen formuliert, nach denen er straflos bleibt. Danach ist der Tatbestand von § 218 StGB z.B. nicht erfüllt, wenn der Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten zwölf Wochen durch einen Arzt und nach einer Pflichtberatung erfolgt. In § 219 steht dann, dass die Beratung dem Schutz des ungeborenen Lebens dienen und die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft ermutigen soll.

Das heißt, dass die gesamte Beratungspflicht-Konstruktion nicht auf Erwägungen beruht, die der Schwangeren in ihrer Konfliktsituation helfen sollen, sondern wieder nur der Betroffenen verdeutlichen sollen, dass sie ihren Körper für die Geburt zur Verfügung stellen soll.

Weitere Ausnahmen von der Strafbarkeit gibt es bei medizinischer Indikation, also einer Gefahr für die Gesundheit der Schwangeren und bei kriminologischer Indikation, also wenn die Schwangerschaft auf eine Sexualstraftat zurückzuführen ist.

Wenn man sich vor Augen führt, dass das Strafrecht eigentlich Ultima Ratio sein sollte ist es schwer nachzuvollziehen, warum all diese Regelungen zu einer medizinischen Behandlung im Strafgesetzbuch getroffen werden.

Diese Kriminalisierung hat weitreichende Folgen.

Man muss sich vor Augen halten, dass unabhängig davon, ob strafrechtlich verfolgt oder nicht, schon immer Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt wurden. Der einzige Wert, der sich bei der Kriminalisierung verändert, ist derjenige der Frauen, die an einem Schwangerschaftsabbruch sterben. Denn wenn ein legaler Abbruch durch Ärzte nicht möglich ist, wird er in Hinternzimmern und von Laien durchgeführt.

Die Kriminalisierung erschwert also für Betroffene den Zugang zu den Schwangerschaftsabbrüchen, obwohl gerade dafür der zeitliche Aspekt eine große Rolle spielt. Denn die Schwangere hat nur 12 Wochen Zeit, um straffrei abzutreiben.

Darüber stellt eine Kriminalisierung aber auch immer ein Risiko für die Versorgungssicherheit dar. Denn fehlende Rechtssicherheit und damit einhergehende Angst vor Strafverfolgung führt immer dazu, dass einige Ärzt*innen sich nicht trauen, diese Behandlung anzubieten. Auch ist dadurch die Durchführung des Abbruchs nicht Teil der medizinischen Ausbildung, sodass die Anzahl der Ärzt*innen, die überhaupt wissen, wie man einen solchen ausführt, immer weiter abnimmt.

Welche Folgen bei einer strengeren Regelung als der deutschen das haben kann, haben wir erst vor kurzem in Polen beobachten können. Erst vor etwas mehr als einem Jahr ist dort das neue Abtreibungsgesetz in Kraft getreten, das Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich verbietet. Schon kurze Zeit später ist eine Frau gestorben. Sie war mit Zwillingen schwanger, von denen der eine im Mutterleib verstorben war. Die Ärzte weigerten sich, den toten Fötus zu entfernen, weil der andere noch lebte und sie strafrechtliche Konsequenzen befürchteten, wenn dieser bei der Entfernung des anderen versterben würde.

Wir kommen also zu dem Ergebnis, dass restriktive Abtreibungsgesetzgebung nicht nur eine Gefahr für die Selbstbestimmung, sondern auch für Leib und Leben der Schwangeren darstellt.

Die Vereinten Nationen ermahnen Deutschland immer wieder, dass es sichere und legale Wege zu Schwangerschaftsabbrüchen geben müsse. Sie fordern, dass die Pflichtberatung und die Bedenkfrist abgeschafft und Abtreibungen von Krankenkassen bezahlt werden sollten. Auch die WHO kritisiert, dass die deutsche Regelung Frauen bevormunde.

Die Vorgaben, die vor fast 30 Jahren vom Bundesverfassungsgericht gemacht worden sind, sind nicht in Stein gemeißelt. Wie die öffentliche Meinung und Wertevorstellungen sind auch verfassungsrechtliche Maßstäbe anpassungsfähig. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass eine weitergehende Entkriminalisierung selbstbestimmter Schwangerschaftsabbrüche heute vor dem Bundesverfassungsgericht bestand hätte.

Gerade auch im Hinblick auf die inzwischen vorliegende Evidenz, dass das Abtreibungsrecht nicht dazu führt, dass weniger Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden, somit die Geeignetheit der Maßnahme zur Erreichung des Zwecks bezweifelt werden kann.

Im Koalitionsvertrag haben wir uns darauf geeinigt, dass eine Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin eingesetzt werden soll, die Regulierungen für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches prüfen wird. Es gibt also Grund zur Hoffnung, dass alles, was ich heute erzählt habe, bald nur noch Rechtsgeschichte sein wird.“

Den ganzen Vortrag als Video findet ihr auf meiner Youtube-Seite.