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„Formal korrekt“ aber nicht „fair“

Bundestag, Über Canan Bayram

Sowohl zur ersten Runde als auch zur anschließenden Stichwahl war ich als Wahlbeobachterin für die OSZE (PV) in der Türkei vor Ort

Sind das „faire“ Wahlen, wenn der amtierende Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan im Staatsfernsehen gut 48 Stunden auf Sendung ist, sein Herausforderer Kemal Kilicdaroglu nur rund 32 Minuten? Auch wenn die anschließende Stimmenauszählung bis auf zwei Stellen hinter dem Komma „formal“ weitgehend korrekt erscheint? Gemessen daran sind die 44,88 Prozent für Kilicdaroglu gegenüber den 49,52 Prozent für Erdogan in der ersten Wahlrunde sehr beachtlich. Und in der anschließenden Stichwahl kam Kilicdaroglu mit rund 48 Prozent noch knapper an Erdogan heran, der etwa 52 Prozent der Stimmen erhielt. Die Wahlbeteiligung lag bei rund 85 Prozent.

Sowohl zur ersten Runde der Präsidenten- als auch der Abgeordnetenwahl sowie zur anschließenden Stichwahl war ich als Wahlbeobachterin für die OSZE (PV) vor Ort in der Türkei. Gemeinsam mit zwölf weiteren Bundestagsabgeordneten bin ich Mitglied der Parlamentarischen Versammlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE-PV), die 323 Parlamentarier*innen aus  57 Staaten Europa, Asien und Nordamerika vereint. Sie spielt eine führende Rolle bei Wahlbeobachtungen, bietet ein Forum für politischen Dialog und stärkt die internationale Zusammenarbeit zur Umsetzung gemeinsamer Selbstverpflichtungen auf den Feldern von Sicherheit und Politik, von Wirtschaft und Umwelt sowie von Demokratie und Menschenrechten.

Eingesetzt war ich zur Wahlbeobachtung in der Provinz Izmir – sowohl in der Stadt als auch auf dem Land. Die Aufgabe unseres Teams war der Besuch von zahlreichen Wahllokalen, um dort eine von der OSZE vorbereitete Checkliste abzuarbeiten. Genauso wie ich es letztes Jahr in den USA gemacht habe. Nach diesen abhakbaren Kriterien der OSZE war formal fast alles okay, aber Fragen nach dem Zugang zu den Medien stehen nicht auf der Liste. Gleichzeitig war die Spannung deutlich zu spüren, die in der Luft lag. Und viele Wahlhelfer*innen freuten sich über unsere Anwesenheit, die symbolisierte, dass wir sie nicht aufgeben.

Gleichzeitig befremdete mich, wie beide Kandidaten sich in angedrohter Härte gegenüber den rund vier Millionen Flüchtlingen aus Syrien, Russland und dem Iran im Land überboten. Da stand nicht nur einfach der „Gute“ dem „Bösen“ gegenüber. Für die vielen politischen Gefangenen wäre ein Sieg von Kilicdaroglu sicher vorteilhafter, für die vielen Flüchtlinge im Land ist Erdogan weniger gefährlich als sein Herausforderer, der die Flüchtlinge aus dem Land werfen wollte.

Geärgert habe ich mich auch über die neu angezettelte Integrationsdebatte in deutschen Medien. Wir müssen uns klar machen, dass von den knapp drei Millionen türkeistämmigen Menschen in Deutschland nur die Hälfte in der Türkei wahlberechtigt und von denen wiederum nur die Hälfte zur Wahl gegangen ist. Man kann genauso gut betonen – statt über die in Deutschland lebenden Erdogan-Wähler*innen zu jammern – wie viele heute nur einen deutschen und keinen türkischen Pass mehr haben.

Millionen Menschen in der Türkei hoffen auf die EU und Westeuropa. Aber für die Türkei als Staat ist die EU ein Club, zu dem sie keinen Zugang findet. Viele Menschen berichten mir, dass sie Angst haben, auch wegen der Inflation, es treibt sie aus dem Land. Und so sehe ich schon die nächste Generation von „Gastarbeiter*innen“ nach Westeuropa kommen, solange keine mehrheitsfähige Option zu einer demokratischen Veränderung der Türkei sichtbar ist. In fast allen türkischen Großstädten war sie mit einer Mehrheit für das Oppositionsbündnis schon deutlich erkennbar.