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„Man hätte ihn für unsterblich halten können“

Bundestag, Bürger*innenrechte, Friedenspolitik, Wahlkreis

Zum Tod von Hans-Christian Ströbele - ein Nachruf

Hans-Christian Ströbele lebt nicht mehr. Nach langer Krankheit ist er gestorben. Meine Gedanken sind bei seiner Ehefrau Juliana und seiner Familie. Ich bin ihm dankbar und er wird mir, er wird uns sehr fehlen. Uns als Politiker, als Rechtsanwälte und als Friedrichshainer*innen, Kreuzberger*innen und Berliner*innen.

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Link zum Artikel in der Berliner Zeitung, Druckausgabe vom 1. September 2022:

https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/stroebeles-politische-ziehtochter-man-haette-ihn-fuer-unsterblich-halten-koennen-li.262308

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Unabhängig davon, ob ich als Rechtsanwältin vor Gericht oder als Politikerin im Deutschen Bundestag beziehungsweise im Wahlkreis unterwegs war, wurde ich gefragt, wie es ihm geht und gebeten, im Grüße auszurichten. Das wird mir nicht mehr möglich sein. Auch wird es nicht mehr möglich sein, seinen Rat einzuholen, zu den großen Fragen unserer Zeit: Klimaschutz und Frieden, soziale Sicherheit und internationale Gerechtigkeit sowie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

„Ich habe ihn irgendwie für unsterblich gehalten“, schrieb die Strafverteidigerin Alexandra Braun, ebenfalls Mitglied im Republikanischen Anwaltsverein, wie ich und bringt damit auf den Punkt, welche Hoffnung und Kraft Hans-Christian Ströbele ausgestrahlt hat. Er hat es verstanden, Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit und Hartnäckigkeit auf eine Art zu verbinden, die viele Veränderungen unserer Gesellschaft ermöglicht hat.

Sein Kampf gegen Diskriminierung hat Wurzeln: Er selbst verwirklichte den Traum seiner Mutter, Rechtsanwalt zu werden. Sie hatte Jura studiert, jedoch durfte sie als Frau in der Nazizeit nicht das Referendariat und damit das für den Anwaltsberuf erforderliche 2. Staatsexamen machen. Dass er diese Geschichte bei meiner Kandidatur erzählte, hat mich deswegen gerührt.

Als ich kandidiert habe für den Deutschen Bundestag 2017, war ich mit Hans-Christian Ströbele auf einem Podium, wo er erzählt hat, wie die Situation war, als er angefangen hat in Heidelberg Jura zu studieren. Außer einer Frau gab es keine weiblichen Jura-Studentinnen. Und er hat das als ein Defizit erkannt. Und er hat geschildert, wie er dann nach Berlin zog und hier ebenfalls in seinem Studiengang nur eine Frau entdeckte und das war auch noch die, die er schon aus Heidelberg kannte.

Hans-Christian Ströbele hat gesagt, dass es ihm wichtig ist, dass seine Nachfolgerin eine Frau ist. Damit ist viel über ihn gesagt. Denn Hans-Christian Ströbele hat seine Grundsätze, seine Ansprüche gelebt und hat dafür gekämpft und ihm verdanke ich einen Teil meiner politischen Arbeit. Ebenso war es ihm wichtig, dass ich meine Migrationsgeschichte erzähle, denn er sah es als eine Bereicherung an und nicht als Defizit. Vielleicht erinnern sich einige an seine Forderung nach einem muslimischen Feiertag. Migrant*innen haben für ihn selbstverständlich dazugehört. Er machte sich stark für das Wahlrecht für alle und verteilte im Wahlkreis das Grundgesetz auf Türkisch.

Nie werde ich vergessen, dass er mich auf einer Parteiversammlung der Grünen über sechs Stunden zu meinen politischen Positionen befragte. Die Liebe zum Detail in diesen Fragen hat uns verbunden. Am Ende sagt er: „Ich unterstütze deine Kandidatur für den Deutschen Bundestag und ich bin mir sicher, dass du den Wahlkreis gewinnen wirst.“ Diese Befragung hatte was von einem Dritten Staatsexamen, jedenfalls hatte ich das Gefühl, dass ich eine große Prüfung bestanden habe.

Was mich mit Hans-Christian Ströbele verbunden hat und was ich fortsetzen will, ist, in der Innen- und Rechtspolitik Gerechtigkeit mitzudenken. Es ist ungerecht, dass Menschen, die seit Generationen in Deutschland leben, an Wahlen nicht beteiligt werden, nur weil sie keinen deutschen Pass haben. Es ist ungerecht, dass die Polizei nach Hautfarbe kontrolliert. Und es ist ungerecht, wenn unsere Daten verkauft werden. Dagegen hat Hans-Christian Ströbele als Innen- und Rechtspolitiker gekämpft und damit einen Dienst am Rechtsstaat geleistet.

Mich erreichte heute ein Anruf, in dem mir jemand sagte: „So, jetzt musst du dafür sorgen, dass das Hanf freigegeben wird. Das bist du Hans-Christian Ströbele schuldig.“ Und ja, ich verspreche, ich werde mich dafür einsetzen, dass Cannabis entkriminalisiert wird.

An einem Wahlkampfstand in Friedrichshain bot ihm eine Gewerbetreibende an reinzukommen und einen Cappuccino zu trinken, worauf er antwortete: „Keine Drogen!“ Da er selbst Kaffee als Droge identifizierte und nicht verstand, warum diese Droge legal sein sollte und Cannabis nicht. Nicht verschweigen will ich, dass er selbst gar kein Cannabis konsumierte, sondern vielmehr daraus eine Frage der Gerechtigkeit machte, die nicht länger zugunsten des Alkoholkonsums der CDU-Wähler entschieden werden darf.

Er war in seiner Zeit als Bundestagsabgeordneter und darüber hinaus stets standhaft in seiner friedenspolitischen Position – auch gegen den eigenen grünen Außenminister. In unserem Wahlkreis wurde plakatiert: „Ströbele wählen, heißt Fischer quälen.“ Damit ist er das erste Mal im Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg angetreten und hat damit erstmals in der grünen Geschichte einen Wahlkreis zur Bundestagswahl direkt gewonnen.

Er hatte die Vision von einem Europa, das Menschenrechte höher wertet als wirtschaftliche Interessen. Daher hat er sich für eine Europäische Staatsanwaltschaft eingesetzt, die über Grenzen hinweg Korruption bekämpft. Letztes Jahr hat diese Europäische Staatsanwaltschaft ihre Arbeit tatsächlich aufgenommen.

Zuletzt hat ihn der Krieg in der Ukraine sehr beschäftigt. Es hat sein Weltbild erschüttert und er konnte nicht verwinden, dass eine grüne Außenministerin mehr über Waffenlieferungen redet als über Friedensverhandlungen. Als seine Nachfolgerin bin ich angetreten, um das Thema Abrüstung und Frieden in der Grünen-Fraktion im Deutschen Bundestag voranzubringen. Dabei hat Hans-Christian Ströbele mich sehr unterstützt. Regelmäßig haben wir uns getroffen und über außenpolitische Themen ausgetauscht. Oft hat gerade seine Perspektive auf die letzten 50 Jahre deutscher Außenpolitik dazu geführt, dass ich die Mandate im Deutschen Bundestag infrage gestellt habe, weil sie mehr Fragen aufwarfen als Antworten gaben. Nie hörte er auf, für seine Überzeugungen zu streiten. Man hätte ihn für unsterblich halten können.

Mein heutiges Wahlkreisbüro ist auch seine frühere Wirkungsstätte, der Igelbau in der Dresdener Straße 10 in Kreuzberg. Diesen möchte ich den Friedrichshainer*innen, Kreuzberger*innen und Pankower*innen zur Verfügung stellen, um Abschied zu nehmen von einem großen Politiker, dem wir Dank schulden und den wir nicht vergessen werden. Dort liegt für sie ein Kondolenzbuch aus.