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Persönliche Erklärung von Canan Bayram MdB zum Vierten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite

Bundestag, Bürger*innenrechte

Erklärung der Abgeordneten Canan Bayram (Bündnis 90/Die Grünen) am 21.04.2021 zu TOP 1: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite (BT-Drs. 19/28444)

Dem Koalitionsentwurf eines Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite kann ich nicht zustimmen und lehne das Gesetz ab.

Die epidemische Lage stellt uns vor Herausforderungen. Aufgrund der sich aggressiv ausbreitenden Mutanten und steigender Infektionszahlen, Longcovid sowie weitere Folgen ist die Gesundheit der Menschen gefährdet.

Die Regelung im Wege der Landesverordnungen durch Einigung in der Ministerpräsidentenkonferenz funktioniert nicht. Die nunmehr vorgenommene „Bundesnotbremse“ wirft jedoch Fragen auf und lässt Zweifel aufkommen, welche Ziele eigentlich verfolgt werden und ob die vorgesehenen Maßnahmen helfen.

Wir befinden uns in einem Wettlauf gegen die Zeit. Wir können uns nicht erlauben, Regelungen zu erlassen, die verfassungswidrig sind. Denn wenn diese vom Bundesverfassungsgericht wieder aufgehoben werden, würde das eine effektive Pandemiebekämpfung zeitlich um Wochen zurückwerfen. Jeder einzelne Mensch, der wegen des schlechten Pandemiemanagements stirbt oder an Longcovid erkrankt, ist zu verhindern.

Die Bundesnotbremse soll erst ab einem Inzidenzwert von 100 greifen. Das halte ich aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen für problematisch. Es ist schon fraglich, ob das Inkrafttreten eines Gesetzes an eine Bedingung – wie hier den Eintritt des Inzidenzwertes von 100 – geknüpft werden darf.
Jedenfalls ist der gewählte Wert möglicherweise zu hoch: Bei einem Inzidenzwert über 35 war die Kontaktnachverfolgung bereits bei der ursprünglichen Virusvariante nicht mehr möglich. Die neue Mutante B 1.1.7. ist noch infektiöser. Zudem führt diese Mutante auch bei jüngeren Menschen häufiger zu schweren Verläufen, sodass die erfolgte Impfung der älteren Bevölkerung sich nicht positiv auf die Auslastung der Intensivbetten in Krankenhäusern auswirkt.

1. Auch die weiteren Inzidenzwerte, an die andere Maßnahmen gekoppelt werden, sind für mich nicht nachvollziehbar:

a. Als Beispiel seien hier die Regelungen im Bereich der Schule genannt. Die zunächst vorgesehene Inzidenz von 200, bei der die Aussetzung von Präsenzunterricht an Schulen erfolgen sollte, wurde nachträglich zwar begrüßenswerter Weise nach unten korrigiert. Der neue (und weiterhin überhöhte) Wert von 165 ist jedoch erkennbar ein reiner Kompromissvorschlag, der nicht an die Kapazitäten des Gesundheitssystems oder gar der Kontaktverfolgung geknüpft ist. Dass gerade in den Schulen, wo nachweislich viele Infektionen stattfinden, die dann über die Schüler*innen an ihre Familienmitglieder weitergetragen werden, ein derart hoher Schwellenwert gelten soll, gefährdet grob fahrlässig die Gesundheit von Lehrer*innen, Schüler*innen und ganzer dazugehöriger Familien.

b. Die willkürliche politische Festlegung der Inzidenzwerte wurde bereits im Februar vom Oberverwaltungsgericht Lüneburg beanstandet. Zutreffend stellt es fest, dass Inzidenzwerte, an die Maßnahmen geknüpft werden, zur „politischen Zahl“ werden, „die im Wege eines Kompromisses bei Verhandlungen zwischen der Exekutive des Bundes und der Länder vereinbart werden.“ Stattdessen müssten die Inzidenzwerte an die tatsächliche Fähigkeit der Gesundheitsverwaltung zur Kontakt-Nachverfolgung geknüpft werden. Nur eine Anknüpfung an tatsächliche Gegebenheiten sei geeignet, die erheblichen Grundrechtseinschränkungen zu rechtfertigen.

2. Obwohl die Ansteckungsgefahr draußen nachweislich erheblich geringer ist, als in Innenräumen, macht der Koalitionsentwurf kaum Unterscheidungen. Auch dieser Aspekt ist unverhältnismäßig und verschließt sich der Wissenschaft. Nach einem Jahr der Entbehrungen sollte es Menschen ermöglicht werden, zumindest im Außenbereich wieder in einem gewissen Rahmen Freizeitaktivitäten nachzugehen.

3. Des Weiteren ist eine Unterscheidung zwischen geimpften und ungeimpften Personen angezeigt. Wie der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages bereits am 25. Januar 2021 ausführte (WD 3 – 3000 – 001/21), sind die Grundrechtseinschränkungen für geimpfte Personen spätestens dann unverhältnismäßig, wenn Geimpfte nachweislich nicht zum Infektionsgeschehen beitragen. Dies ist laut Aussage des Robert-Koch-Instituts der Fall. Eine Rechtfertigung für die massiven Grundrechtseinschränkungen zulasten Geimpfter durch Gesetz ist augenscheinlich nicht mehr gegeben.

4. Gegen ein Bundesgesetz ist auch der Rechtsschutz erschwert. Während jeder Mensch gegen eine Verordnung eine Klage vor dem Verwaltungsgericht erheben könnte, bleibt als Rechtsschutz gegen ein Bundesgesetz nur der Weg zum Bundesverfassungsgericht.

5. Die geplanten nächtlichen Ausgangssperren sind zumindest verfassungsrechtlich bedenklich:

a. Die Ausgangssperren greifen unmittelbar in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht, die Allgemeine Handlungsfreiheit und die Ehe- und Familienfreiheit ein.

b. Eine Grundrechtseinschränkung muss, um verhältnismäßig zu sein, zunächst geeignet sein, den verfolgten Zweck – hier eine Senkung der Inzidenzen – zu erreichen. Bereits an diesem Punkt gibt es Bedenken. In einigen Bundesländern sowie Nachbarländern gibt es Hinweise darauf, dass die nächtlichen Ausgangsbeschränkungen nicht in relevantem Maß zur Pandemieeindämmung beitragen. Da Ansteckungen sich hauptsächlich in Innenräumen ereignen, ist nicht vermittelbar, warum ausgerechnet das nächtliche Herumlaufen an frischer Luft verboten sein sollte. Dies ist insbesondere fraglich, da zur Nachtzeit weniger Menschen auf den Straßen sind, als tagsüber.

c. Die Argumentation, dass damit vermieden werden solle, dass Menschen sich in Wohnungen anderer Menschen begeben – sie also „auf dem Weg“ abgefangen werden sollten – ist durch den Änderungsantrag der Koalition hinfällig: Wie eine Ausgangsbeschränkung zwischen 0 Uhr und 5 Uhr morgens dazu beitragen soll, dass sich Menschen nicht vor 0 Uhr in Wohnung anderer Menschen begeben und sich dort entweder nur bis 0 Uhr aufhalten und dann den Heimweg antreten oder dies sogar erst am nächsten Morgen nach 5 Uhr tun, ist zumindest fraglich. Der Aufenthalt in der fremden Wohnung zu dieser Zeit ist ohnehin schon verboten.

d. Soweit die Bundesregierung darauf verweist, es gebe Studien, die auf die Wirksamkeit von nächtlichen Ausgangsbeschränkungen hinweisen, sei angemerkt, dass es sich dabei um Ausgangssperren im Zeitraum von 20-6 Uhr handelte und nicht von 0-5 Uhr.

e. Die Ausgangssperre darf nur als Ultima Ratio eingesetzt werden, also als letztes Mittel, wenn kein anderes Mittel wirkt. Die Maßnahmen in übrigen Bereichen des Lebens sind nicht ausgereizt, schon deswegen sollte ein voreiliger Entschluss für eine Ausgangssperre überdacht werden.

6. Wenn die Koalition wirklich den Anspruch hätte, aus der Spirale der steigenden Neuinfektionen auszusteigen, so müssten die Inzidenzzahlen massiv gesenkt werden. Dieses Ziel kann durch die vorliegende Notbremse nicht erreicht werden:

a. Da es für eine Aufhebung der Maßnahmen nach dem vorliegenden Entwurf bereits reicht, wieder für fünf aufeinanderfolgende Tage unter eine Inzidenz von 100 zu gelangen, wird dies zu einem „Jojo-Lockdown“ führen.

b. Um aus dieser Lockdown-Spirale zu entkommen, müsste man zunächst die Zahlen in relevantem Maß senken. Denn es liegt gerade in der Natur des exponentiellen Wachstums, dass eine Erhöhung der Zahlen von 90 auf 100 sich schneller vollzieht, als von 10 auf 20. Gleichzeitig ist bei niedrigen Zahlen wieder eine Kontaktverfolgung und damit eine lokale Eindämmung von Infektionsherden möglich.

c. Wäre es der Koalition daher ernst mit der Pandemieeindämmung, so würde sie – angelehnt an die im No-Covid-Strategiepapier skizzierte Vorgehensweise, die auch bereits in anderen Ländern erfolgreich zum Einsatz gekommen ist – die Infektionszahlen durch einen kurzen, dafür sehr harten Lockdown in allen Lebensbereichen absenken, um anschließend durch Mobilitätskontrollen, verpflichtende Tests und Quarantäne sowie lokal begrenztem Eingreifen einen erneuten unkontrollierten Ausbruch verhindern. Nur so können wir es langfristig auch z.B. der Kultur, dem Einzelhandel, der Gastronomie, den Kindertagesstätten und den Schulen ermöglichen, ihren normalen Betrieb gefahrenlos wieder aufzunehmen und damit den Menschen eine Aussicht auf eine Rückkehr zum normalen Leben eröffnen.

d. Maßnahmen am Arbeitsplatz sind notwendig, um die Inzidenzen zu senken. Die Mobilität der Arbeitnehmer*innen durch den Arbeitsweg sowie der gemeinsame Aufenthalt mit vielen Personen aus anderen Haushalten während der Arbeitszeit sind Treiber der Pandemie. Dennoch ist weder eine Testpflicht für Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen vorgesehen, noch eine Homeoffice-Pflicht dort, wo es möglich ist. Mit dieser offensichtlichen Ungleichbehandlung von Privatem und Beruflichen verlieren wir das Vertrauen und Verständnis derjenigen Menschen, die sich bisher bereitwillig an alle Maßnahmen gehalten haben.

e. Als Teil eines solchen schlüssigen Gesamtkonzepts, das auch den Arbeitsbereich einbezieht und auf eine rasche Aufhebung der Maßnahmen gerichtet wäre, wäre selbst eine Ausgangssperre akzeptabel.

Fazit: Ich kann diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen, weil er nicht geeignet ist, die bestehende epidemische Lage derart einzudämmen, weil die drohende Überlastung des Gesundheitssystems dadurch nicht abgewendet werden kann und ich die Maßnahmen für nicht verhältnismäßig halte, da sie ausschließlich im privaten Bereich ansetzen.