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Persönliche Erklärung von Canan Bayram zum Gesetz zur Fortgeltung der die epidemischen Lage von nationaler Tragweite betreffenden Regelungen

Bundestag, Bürger*innenrechte, Mieten

Erklärung der Abgeordneten Canan Bayram (Bündnis 90/Die Grünen) am 04.03.2020 zu TOP 8: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortgeltung der die epidemische Lage von nationaler Tragweite betreffenden Regelungen (BT-Drs. 19/26545)

Dem Koalitionsentwurf eines Gesetzes zur Fortgeltung der die epidemische Lage von nationaler Tragweite betreffenden Regelungen kann ich nicht zustimmen.

Meine Entscheidung beruht auf den folgenden Gründen:

1. Ich erkenne an, dass weiterhin eine pandemische Lage gegeben ist und beklage die derzeit durch die Mutationen wieder steigenden Infektionszahlen sowie die dadurch manifeste Bedrohung von Leben und Gesundheit aller Bürger*innen. 

2. Der Regelungsversuch ist jedoch nicht zustimmungsfähig. Daher lehne ich das Gesetz ab.

a) Während am Anfang der Pandemie noch angezeigt war, möglichst schnell zu handeln, um die unkontrollierte Ausbreitung der Pandemie zu stoppen, so kann dies nach nunmehr einem Jahr nicht mehr der Maßstab sein. Regierung und Parlament hatten ein Jahr Zeit, sich auf einen nachhaltigen Umgang mit der epidemischen Lage einzustellen. Der Bundesregierung ist es jedoch innerhalb der letzten Monate weder gelungen, die epidemische Lage derart zu kontrollieren, dass ein baldiges Ende derselben absehbar sei, noch eine Anpassung der Rechtslage hin zu einem verfassungsmäßigen Zustand.

b) Wie wir aus Gutachten den Wissenschaftlichen Dienstes und Ausarbeitungen von Verfassungsrechtsprofessor*innen wissen, ist der § 5 Abs. 2 IfSG verfassungsrechtlich wohl zumindest erheblich problematisch, da es der Exekutive, namentlich dem Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, erlaubt, von Parlamentsgesetzen abzuweichen. Der neue Gesetzentwurf der Koalition verhält sich hierzu nicht und bietet keine mit dem Demokratie- und Rechtsstaatsgebot vereinbare Lösung. 

c) Ein volles Jahr nach Beginn der Pandemie mangelt es noch immer an klaren Unterrichtungspflichten der Bundesregierung an den Bundestag als Gesetzgeber und Verfassungsorgan. Die Bundesregierung wird nicht verpflichtet, über alle ihre Erkenntnisse zur Pandemie und ihre Pläne und Vorschläge zur weiteren Pandemie-Bekämpfung zum frühestmöglichen Zeitpunkt und fortlaufend zu unterrichten. Stattdessen werden die Entscheidungen auf intransparente Weise hinter verschlossenen Türen in der Ministerpräsidentenkonferenz getroffen. Eine gesteigerte Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Entscheidungsfindung würde nach meiner Überzeugung auch die Akzeptanz der Maßnahmen erhöhen.

d) Auch ein kontrollierter Ausstieg aus den grundrechtseinschränkenden Maßnahmen ist nicht absehbar. Zwar werden einzelne Maßnahmen nach und nach aufgehoben, einen transparenten Stufenplan, aus dem klare Richtwerte hervorgehen, ist jedoch noch immer nicht erlassen worden. Dabei kann sich die Bundesregierung auch nicht mehr nur an Inzidenzwert und Reproduktionszahl orientieren, sondern muss nunmehr auch Impffortschritt und Auslastung der Intensivkapazitäten berücksichtigen. Auch die Möglichkeit Testung zur Ermöglichung von einzelnen derzeit verbotenen Tätigkeiten muss langfristig von der Bundesregierung in Erwägung gezogen werden. 

e) Der zwingenden Begründungspflicht für den Erlass der Corona-Verordnungen kommen die Bundesländer nur unzureichend nach. Je länger die Freiheitseinschränkungen andauern, desto ausführlicher und überzeugender müssen sie begründet werden. Stattdessen sind diese in der Praxis häufig formelhaft. 

f) Die willkürliche politische Festlegung der Inzidenzwerte wurde erst kürzlich vom OVG Lüneburg beanstandet. Zutreffend stellt es fest, dass Inzidenzwerte, an die Maßnahmen geknüpft werden, zur „politischen Zahl“ werden, „die im Wege eines Kompromisses bei Verhandlungen zwischen der Exekutive des Bundes und der Länder vereinbart werden.“ Vielmehr müssten die Inzidenzwerte an die tatsächliche Fähigkeit der Gesundheitsverwaltung zur Kontakt-Nachverfolgung geknüpft werden. Nur eine Anknüpfung an tatsächliche Gegebenheiten sei geeignet, die erheblichen Grundrechtseinschränkungen zu rechtfertigen.

g) Auch beanstandet das OVG Lüneburg (ebenda) in zutreffender Weise, dass mildere Mittel im Hinblick auf die Betriebsverbote und -beschränkungen im Hinblick auf die Länge der bereits andauernden epidemischen Lage zu prüfen wären. 

3. Hinzu kommen die Verfehlungen des Bundesgesundheitsministers Spahn, die Zweifel daran aufkommen lassen, ob er der Aufgabe der Pandemiebewältigung gewachsen ist. Da Jens Spahn durch § 5 Abs. 2 IfSG weitreichende Befugnisse eingeräumt werden, ist eine kritische Auseinandersetzung mit seiner Person im Zusammenhang dieses Gesetzes unerlässlich. 

a) In der ersten Jahreshälfte 2020 waren vom Bundesgesundheitsministerium zu wenige Schutzmasken bestellt worden, später zu viele. Das Ergebnis: die bestellten Masken wurden nicht abgenommen. Mehrere dutzend Verfahren liefen vor dem Landgericht Bonn gegen das Ministerium, weil dieses den mittelständischen Lieferanten die Zahlung in Höhe von insgesamt mehreren Millionen Euro verweigerte.

b) Es folgte das Impf-Desaster, das wir noch heute beobachten können. Nachdem angekündigt worden war, es könne schon im Dezember mit dem Impfen begonnen werden, hat sich noch immer zu wenig getan. Zunächst war zu wenig Impfstoff bestellt und geliefert worden. Doch nicht einmal diese Dosen sind verimpft worden: Mehrere Wochen später beträgt die Impfquote der Erstimpfungen noch immer unter 3 Prozent (Stand: RKI, 03.03.2021, 10 Uhr). Damit hinken wir anderen Industrie-Nationen weit hinterher.

Statt Maßnahmen zu ergreifen, um mehr Menschen den Zugang zu Impfstoffen zu ermöglichen, werden lediglich einzelne Personengruppen in andere Prioritätsgruppen verschoben. Dieses willkürliche Vorgehen kostet nicht nur Menschenleben, sondern schwächt auch das Vertrauen der Bevölkerung in die Impfstrategie der Regierung.

c) Auch die kostenlosen Schnelltests, die laut Spahn ab dem 1. März 2021 Jedermann zur Verfügung stehen sollten, stellen bis heute ein uneingelöstes Versprechen dar. Dabei können Schnelltests dazu führen, dass freiheitsbeschränkende Maßnahmen aufgehoben werden, ohne in erheblichem Maß an Infektionsschutz einzubüßen. 

d) Schließlich ist das Vertrauen in den Bundesgesundheitsminister auch dadurch erschüttert, dass er von der Bevölkerung einen Verzicht fordert, den er selbst nicht zu erbringen bereit ist. Denn während er am Morgen des 20. Oktobers 2020 noch im ZDF die Menschen aufrief, auf private Feiern zu verzichten, nahm er selbst noch am selben Abend an einem Abendessen mit einem Dutzend Unternehmern in Leipzig teil, die im Vorfeld des Abends gebeten worden seien, Spenden für Spahns Bundestagswahlkampf in Höhe von 9999 Euro zu überweisen. Dieser Vorgang führt zu einem erheblichen Verlust nicht nur des Vertrauens der Bevölkerung, sondern auch der Bereitschaft, sich an die von Spahn verordneten Maßnahmen weiterhin zu halten. 

4. Nicht zuletzt haben sich auch meine Bedenken hinsichtlich der unzureichenden Abmilderung der Pandemiefolgen für die Bevölkerung verwirklicht: 

a) Schon im Frühjahr 2020 habe ich darauf hingewiesen, dass zum Schutz der Wohnraum- und Gewerbemieter*innen Kündigungen nicht nur wie vorgesehen für 3 Monate bis 30.06.2020 auszuschließen wären, sondern für einen längeren Zeitraum. Eine Verlängerung des Kündigungsmoratoriums ist durch die Bundesregierung jedoch ausgeblieben. Auch ein Sonderfonds für von der Krise betroffenen Mieter*innen wurde nicht eingerichtet. 

b) Auch hat sich auch meine Befürchtung hinsichtlich der Ausschüttung von Boni und Dividenden durch staatlich unterstützte Konzerne bewahrheitet. Schon letztes Jahr kritisierte ich heftig, dass im Wirtschaftsstabilisierungsfondsgesetz die Gehälter und Boni von Managern und Angestellten von Corona-bedingt geförderten Unternehmen nicht niedrig gedeckelt sind. Die befürchteten Missbräuche und Mitnahme-Effekte sind eingetreten. Einige Unternehmen konnten während der Krise erhebliche Gewinne erzielen und erhöhte Dividenden Ausschütten, obwohl sie zeitgleich staatliche Hilfen wie Kurzarbeitergeld erhielten. Laut Oxfam zeichneten sich die deutschen Unternehmen im internationalen Vergleich besonders „durch Dreistigkeit und Maßlosigkeit aus“. Ein deutsches Automobilunternehmen habe demnach trotz der Inanspruchnahme von Kurzarbeit mehr als eine Milliarde Euro an Dividenden ausgezahlt. Auch zwei deutsche Chemiekonzerne würden jeweils etwa 3 Milliarden Euro ausschütten, obwohl sie aus dem britischen Nothilfefonds kassiert haben.

c) Dass Obdach- und Wohnungslosen selbst im Winter kein Wohnraum zur Verfügung gestellt wird, ist ebenfalls inakzeptabel. Die staatliche Anweisung lautet: Zuhause bleiben und Hygieneregeln beachten. Doch wer kein Zuhause hat, kann sich an diese Regeln nicht halten. Wer auf der Straße lebt, ist neben der Gesundheitsrisiken durch die Kälte auch einem erhöhten Corona-Infektionsrisiko ausgesetzt und stellt damit wiederum ein höheres Infektionsrisiko für alle anderen Menschen im öffentlichen Raum dar. Warum die Bundesregierung sich nicht dafür einsetzt und die Kommunen finanziell dabei unterstützt Unterbringungen für diese besonders schutzbedürftigen Menschen zu gewährleisten, ist nicht nachvollziehbar. 

e) Dass die von der Bundesregierung angepriesenen Hilfen für die Unternehmen entgegen der Ankündigungen nicht kurzfristig ausgeschüttet wurden, sondern im Gegenteil im März noch immer Unternehmer auf die sogenannten „Novemberhilfen“ warten (Stand 01.03.2021: 70 Prozent der Novemberhilfen in Berlin ausgezahlt), ist skandalös. Das Geld ist da – es wird nur nicht ausgezahlt. Hierbei handelt es sich um vollständiges politisches Versagen der Bundesregierung. Dies führt auch dazu, dass die Akzeptanz der Maßnahmen in der Bevölkerung immer weiter sinkt. Hinzu kommt, dass viele Selbstständige sich von diesem Ausfall nicht erholen werden, sondern vor den Ruinen ihrer beruflichen Existenz stehen. 

5. Fazit: Ich kann diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen, weil er gemessen an der Länge der bereits bestehenden epidemischen Lage noch immer zu viele rechtliche und tatsächliche Defizite hinsichtlich der Pandemiebekämpfung sowie der Abmilderung der Pandemiefolgen für die Bevölkerung aufweist.